Sie ist ein Hoffnungsträger der deutschen und europäischen Industrie: Die deutsche Medizintechnikbranche liegt laut des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) mit einem Anteil von 9,9 % am Weltmarkt nach den USA auf Platz zwei, noch vor China und Japan.
Auch wenn der Umsatz 2024 nur um ca. 1,6% gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, beläuft er sich immer noch auf 41 Milliarden €. Die Branche verzeichnet mehr als 200.000 Beschäftigte und zählt damit zu einem der “einflussreichsten Teilbereiche der Gesundheitswirtschaft.”
Das Wachstum ist also vergleichsweise hoch, ein Großteil der Betriebe sind KMU (kleine und mittelständische Unternehmen) und in einer Umfrage des BVMed im Herbst 2024 sagen 74% der befragten Unternehmen, dass die Arbeitsplätze sicher sind oder ausgebaut werden.

Die MedTech-Branche ist also für Arbeitnehmer:innen attraktiv.
Allerdings bereiten die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie und die Energie- und Rohstoffkrise seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine der Branche große Schwierigkeiten. Außerdem hat die Medizintechnik wie auch die Pharmaindustrie mit volatilen Lieferketten, überbordenden Regularien wie der EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) und der digitalen Transformation zu tun. Auch der Umgang mit Daten ist ein wichtiges Thema.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat eine Branchenanalyse Medizintechnik erstellt und benennt darin wichtige Punkte, die wirtschaftlich und politisch bedacht werden sollten.
Der Fachkräftemangel in der Medizintechnik
Auch der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen betrifft die Branche der Medizintechnik. Gerade weil es sich bei den deutschen Unternehmen zu über 90% um KMU handelt, können nicht so viele Ressourcen aktiviert werden wie bei großen Weltkonzernen. International vernetzte Unternehmen werden laut der Branchenanalyse Medizintechnik der Hans Böckler Stiftung bürokratische und regulatorische Hürden viel besser kompensieren und großflächig in Digitalisierung investieren. Für kleinere Unternehmen kann außerdem der Personalmangel bis zur Existenzgefährdung führen.
Der Bundesverband Medizintechnologie fordert daher von der Politik Maßnahmen zu treffen, um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Gesundheitsbranche zu stärken. Digitale Lösungen und pflegeunterstützende Technologien können dabei helfen und sollten gezielt gefördert werden. Dies würde auch die Medizintechnikbranche stärken.
Die Attraktivität für internationale Fachkräfte sollte durch einfache Anerkennungsverfahren, Integrationsangebote und Internationalisierung der Verwaltungsverfahren (englische Formulare, Sprachkompetenz) erhöht werden.
Gleichzeitig sollte, um dem Personalmangel zu begegnen, für Arbeitsstellen in der Medizintechnik branchenübergreifend rekrutiert werden. Folgende Qualifikationen werden laut BVmed besonders gesucht:

Quereinstieg - Potential und Wissenstransfer
Quereinsteiger:innen bieten für jede Branche die Möglichkeit, den Blick über den Tellerrand zu werfen. Für die Medizintechnik kann dies besonders bereichernd sein, weil sie ja auch eine interdisziplinäre Branche zwischen Medizin und Technik ist. Oder wie Ingenieur.de zusammenfasst:
“Alleine an der Entwicklung eines Magnetresonanztomografen sind Dutzende Berufsbilder beteiligt. Darunter Softwareentwickler, Ärzte, Physiker, Datenanalysten, aber auch Maschinenbauer, Elektrotechniker, Mechatronikingenieure und Requirement Engineers.”
Ingenieure und Ingenieurinnen können aus der Luft- und Raumfahrt genauso wie der Automobilbranche zur Medizintechnik wechseln. Die Maschinentechnik und die Qualitätsanforderungen ähneln sich. Es ist “nur” wichtig, die komplexen Regularien und die Produktionsbedingungen zu erlernen. Unternehmen können dafür Weiterbildungen anbieten oder bereits bestehende Angebote nutzen: Um die Transformation vom Verbrennungsmotor hin zur E-Mobilität zu unterstützen, gibt es für den Cluster Nürnberg beispielsweise eine Förderung, die auch den Wissenstransfer zur Medizintechnik unterstützt: “Automotive Industry meets Healthcare“. Um diese regulatorischen Angelegenheiten (Regulatory Affairs) zu managen, können Personen aus der Pharmaindustrie oder der Biotechnologie in ein Medizintechnikunternehmen wechseln, weil sie den Umgang damit bereits kennen.
Die o.g. Medizinprodukteverordnung (EU) (MDR) sowie beispielsweise die In-vitro-Diagnostika-Verordnung (EU) (IVDR) schaffen Hürden für die Betriebe und die Beschäftigten, schützen allerdings auch Daten und Anwendungen. Cybersecurity von Medizinprodukten als Teil der IT-Sicherheit im Gesundheitswesen lautet hier die Devise des Verbandes Deutscher Elektrotechniker (VDE) und bietet einen Überblick über aktuelle Leitfäden. Auch Elektrotechniker sind in der Medizintechnik vertreten und können aus anderen Branchen abgeworben werden.
Um wiederum Cybersecurity zu gewährleisten und zu pflegen, werden verstärkt digitale Prozesse angewandt. Genauso wie für die Forschung und Entwicklung oder die Medizinprodukte und Versorgung von Patient:innen. Eine Studie über Digitalisierung in der Medizintechnik des VDI (Verein deutscher Ingenieure) bündelt aktuelle Trends und spricht von einem „Internet of Medical Things“ (IoMT), das im Entstehen sei. Hierfür werden, wie in anderen Branchen auch, händeringend IT-Fachkräfte gesucht. Software-Entwicklung, Robotik und bildgebende Verfahren, Cybersicherheit und Lieferketten können und müssen verstärkt von ihnen unterstützt werden.
Eine ausgebildete Pflegefachkraft kann wiederum mit ihrer Berufserfahrung eine Bereicherung sein. Für Bewerber:innen ist es, wie in diesem Beispiel, mitunter attraktiv, die komplexen Arbeitsbedingungen des Krankenhauses für geregelte Arbeitszeiten zu tauschen. Der direkte Kontakt zu den Patient:innen fällt zwar weg, trotzdem wird der Medizintechnik ein “erheblicher Anteil am Anstieg der Lebenserwartung zugeschrieben”. Beschäftigte im Bauingenieurwesen könnten sich für die Medizintechnik aus den gleichen Gründen interessieren. Die vielfältige Kombination aus medizinischer Anwendung und Technik schafft einen großen Anreiz. Diese Motivation kann für viele Kandidat:innen aus unterschiedlichsten Branchen ausschlaggebend sein, in die Medizintechnik zu wechseln. Am Beispiel des Krankenhauses konnte hier gezeigt werden, dass der Idealismus, am Wohl des Menschen zu arbeiten, einen Wechsel in die Healthcare-Branche oftmals interessant macht. Für die Unternehmen bieten Branchen-Neulinge wiederum innovative Perspektiven, andere Problemlösungsansätze und praktische Erfahrungen. Sie einzubinden erfordert etwas Aufmerksamkeit, kann aber gut gelingen.
Best practices der Integration (6-Punkte-Plan)
Die Hürden einer Beschäftigung in der Medizintechnik sollten selbstverständlich frühzeitig kommuniziert werden.
- Die Vor- und Nachteile können von einem erfahrenen Personalberater (umgangssprachlich „Headhunter“) beim Recruiting angesprochen werden. Durch ihn können auch verschiedene Branchen gleichzeitig abgedeckt werden.
- Gleichzeitig sollten Stellenanzeigen in verschiedenen Jobportalen oder in sozialen Medien an Kandidat:innen verschiedener Branchen gerichtet werden. Die Medizintechnik kann sich im Umgang mit Social Media auch von Krankenhäusern inspirieren lassen
- Ein gut durchdachtes Employer Branding mit Vorteilen des Unternehmens wie Familienfreundlichkeit, ähnlich den Benefits im Krankenhaus, sollte schon in der Stellenanzeige kommuniziert werden
- Ein Mentoring und (möglicherweise auch digital) gestaltetes Programm für Neuankömmlinge ähnlich des Onboarding im Krankenhaus kann schließlich die Ankunft erleichtern und den branchenübergreifenden Wissenstransfer unterstützen
- Die aktuellen Regularien sollten in Weiterbildungen erlernt werden. Hierfür können auch Schulungen in Anspruch genommen werden wie beispielsweise des BVmed: Einführung in die regulatorischen Anforderungen der Medizinproduktebranche.
- Für internationale Kandidat:innen und auch für den internationalen Markt sollte alles von der Stellenanzeige bis zum Firmenprofil auch auf englisch angeboten werden.
Gerade die Angebote eines Betriebes und die Aus- und Weiterbildungen sind aber nicht nur für neue Kandidat:innen aus anderen Branchen attraktiv. Auch langjährige Beschäftigte profitieren davon und werden in der Bindung an das Unternehmen gestärkt.
Jede Veränderung sollte dabei im Sinne einer transformationalen oder offenen Unternehmensführung gut kommuniziert werden, um die Belegschaft nicht zu verunsichern. Das gilt auch für neue Mitarbeitende aus anderen Branchen. Nebenbei wird damit auch eine junge Generation angesprochen, die verstärkt auf ihre Work-Life-Balance achtet und flache Hierarchien achtet.
Mit diesen genannten Maßnahmen besteht für Medizintechnikunternehmen nicht nur die Möglichkeit, Fachkräfte aus anderen Sektoren erfolgreich zu integrieren. Gleichzeitig bleibt die Belegschaft auf dem neuesten Stand, wird in die Kommunikation eingebunden und kann sich schließlich für die internationale Konkurrenz wappnen. Denn auch Indien ist in der Medizintechnik im Vormarsch. Im Hinblick auf sich verändernde geopolitische Umstände und die internationale Konkurrenz kann damit die europäische Medizintechnik gestärkt werden.
Fazit
Die Rekrutierung von Fachkräften aus anderen Branchen sollte in die Hände von erfahrenen Headhuntern gelegt werden. Diese wiederum können potentielle Kandidat:innen von den Vorteilen eines Branchenwechsels überzeugen. Wenn die richtigen Weiterbildungen und innerbetrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist jede Fachkraft aus einer anderen Branche eine Bereicherung für ein Medizintechnikunternehmen. Denn sie bringen andere Perspektiven und Lösungen mit sich und sind möglicherweise hoch motiviert. Damit kann dem Fachkräftemangel entgegen getreten werden und der deutschen Medizintechnik geholfen werden, wieder stärker zu wachsen.